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Spiegel 1997 – Der Feind ist gestellt

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    Andrej
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    Der Feind ist gestellt

    Von Klein, und Halter,

    Ist der Herzinfarkt ansteckend? Die Indizien mehren sich für eine Hypothese, die von Forschern als „medizinische Überraschung des Jahrhunderts“ gewertet wird. Unter Verdacht steht ein Bakterium, mit dem mehr als 60 Prozent der Deutschen, oft seit ihrer Kindheit, infiziert sind.

    Eine Seuche wütet in Deutschland. Alle sechs Minuten rafft sie einen Menschen dahin. Auch wenn sich Notärzte schon nach Minuten über das Opfer beugen, sind sie in vielen Fällen machtlos: Die Hälfte aller Betroffenen überlebt die lebensbedrohliche Attacke nicht.

    Matthias Maaß, Mikrobiologe an der Universität Lübeck, hat einen Erreger unter dem Mikroskop, den er für dringend verdächtig hält, schuld an dieser todesträchtigen Epidemie zu sein. Der Keim, ein Bakterium, mißt wenige zehntausendstel Millimeter, hat eine dreischichtige Zellwand und ist kugelrund.

    Chlamydia pneumoniae heißt die Kreatur, die sich jahrelang im Körper des Menschen verschanzt. Sie nistet sich, wie Maaß herausfand, in den weißen Blutkörperchen ein – kapert also genau jene Zellen, die eigentlich bösartige Eindringlinge vernichten sollen. So reist die Chlamydie unerkannt durch die Adern. Am Ende ihres Zerstörungswerks stehen Herzinfarkt und Schlaganfall – nach Krebs die häufigsten Todesursachen in Deutschland.

    Das mörderische Spiel der Chlamydie ist, mit den Worten des Berliner Gefäßspezialisten Hermann Haller, „eine der größten medizinischen Überraschungen des Jahrhunderts“. Seit langem rätselten die Ärzte über die Ursachen der Volkskrankheit Infarkt. Keiner der bekannten Risikofaktoren – Streß, Blutfett, Bewegungsmangel – war geeignet, als direkte Ursache die tödlichen Herzattacken befriedigend zu erklären.

    Vorletzte Woche trugen Forscher aus der ganzen Welt auf einem Internistenkongreß in Wiesbaden Indizien vor, die in ihren Augen einen unglaublichen Verdacht in die Nähe der Gewißheit rücken: Der Herzinfarkt ist eine ansteckende Krankheit.

    Diese Erkenntnis, meint der Frankfurter Professor für Infektionskrankheiten Wolfgang Stille, sei eine „Weltsensation“. 60 bis 80 Prozent aller Fälle von Arteriosklerose, so behauptet Stille, „sind offenbar durch eine Infektion mit dem Bakterium Chlamydia pneumoniae bedingt“.

    Mit der Chlamydie, deren zahlreiche Typen in verschiedenen Körperregionen nisten, sehen die Forscher einen Feind der Menschheit gestellt.

    Den Erreger, der jetzt als Ursache des Infarkts verdächtigt wird, tragen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung in ihren Lungen und im Blut. Meist haben sie sich schon in der frühen Kindheit angesteckt. Chlamydia pneumoniae verbreitet sich wie das Grippevirus per „Tröpfcheninfektion“ – es genügt, von einem Infizierten angehustet zu werden.

    Wer sich Chlamydien eingefangen hat, merkt es meist nicht einmal: Zunächst bewirkt der Erreger allenfalls einen leichten Infekt mit den Symptomen einer gewöhnlichen Erkältung. Doch der Körper wird die Mikrobe meist nie mehr los. Über die Jahre hinweg nistet sie sich in den Adern ein, vermehrt sich dort und löst tief in den Gefäßen eine – zunächst stumm verlaufende – chronische Entzündung aus. Auch davon merkt der Betroffene nichts.

    Nikotin, Blutfett oder Zuckerkrankheit schaffen einen Nährboden, auf dem die Chlamydie blühen kann. So treiben sie die Verkalkung der Arterien voran, die Jahrzehnte nach der Ansteckung zum Infarkt führt.

    Seit dieser Zusammenhang aufgedeckt sei, verspricht Infektionsmediziner Stille, könne man gezielt darangehen, den Feind zu bezwingen: „Eine Chlamydien-Infektion läßt sich mit Antibiotika ordentlich behandeln.“ Erste Erfolge wurden in Wiesbaden vorgelegt. Möglicherweise stehe sogar eine Impfung gegen den Infarkt in Aussicht.

    Sicher ist jetzt schon: Die Entlarvung eines Bakteriums als Hauptschurke im Drama Herztod würde einen Umschwung in der Medizin markieren – es wäre das bisher dramatischste Beispiel für die Macht der Mikroben über den menschlichen Körper, die den Medizinern gerade in jüngster Zeit immer deutlicher bewußt wird (siehe Kasten Seite 240).

    Der Verdacht, daß Herzinfarkt ansteckend sein könnte, keimte bei Infektionsmedizinern erstmals vor neun Jahren. Damals grassierte unter der Elite der schwedischen Orientierungsläufer eine ominöse Serie von Todesfällen.

    Kurz hintereinander waren acht der Spitzensportler, meist nach dem Training, tot zusammengebrochen – niedergestreckt durch Herzkollaps. Experten der Universität Uppsala fahndeten nach den Ursachen. Die Athleten waren scheinbar bei bester Gesundheit gewesen, sie hatten nicht geraucht und sich fettarm ernährt. Als die Forscher die durchtrainierten Herzen der Infarktopfer autopsierten, fanden sie winzige Erreger – Chlamydia pneumoniae.

    Hatten sich die Elitesportler, die zusammen trainierten, gegenseitig angesteckt? Möglicherweise, so orakelte das britische Wissenschaftsblatt NEW SCIENTIST, könne man „den Herzinfarkt einfangen“ – wie eine Grippe.

    Acht Jahre vergingen nach dem Überraschungsfund in Schweden, bis den Medizinern dämmerte, daß sie es mit weit mehr als einigen exotischen Einzelfällen zu tun haben könnten. Sie wurden aufgerüttelt durch eine Untersuchung des US-Kardiologen Joseph Muhlestein, der sich mit Kathetern zum Arterienkalk von 90 schwer herzkranken Patienten vorgearbeitet und daraus Proben geschält hatte. In mehr als 70 Fällen wurde er fündig: Inmitten der sklerotischen Ablagerungen, einer weißgrauen Schlacke aus Fett und Kalk, tummelten sich Chlamydien.

    Doch die entscheidende Frage konnte Muhlestein noch nicht beantworten: Sind die Bakterien die Ursache der Ablagerungen, oder sind sie Begleiterscheinung der Erkrankung, harmlose Parasiten, die sich in den geschädigten Gefäßen aufhalten?

    Die nun in Wiesbaden vorgelegten Befunde stützen die Ursachen-Vermutung.

    Sie sind dazu angetan, so der US-Kardiologe Wayne Alexander, „die Vorstellung der Mediziner über den Infarkt völlig über den Haufen zu werfen“. Indizien, die in den vergangenen drei Wochen bekannt wurden, kommen nahezu einem Schuldspruch über die Chlamydien gleich:

    * Untersuchungen an mehreren tausend Personen beweisen, daß bestimmte Entzündungsproteine im Blut einen kommenden Infarkt schon Jahre vorher ankündigen. Der Körper bildet solche Eiweiße bei bakteriellen Infektionen.

    * Versuchstiere, denen Chlamydien in die Nase gesprüht wurden, entwickelten Arteriosklerose – jene Verkalkung und Verengung der Blutgefäße, die dem Infarkt vorausgeht.

    * Antibiotika senkten bei Infarktpatienten das Risiko, einen neuen Anfall zu erleiden. Blutproben zeigten, daß die Medikamente die Chlamydien abgetötet hatten.

    „Jetzt laufen die Stränge zusammen“, kommentiert der Berliner Gefäßspezialist Haller. Erstmals stehe eine schlüssige Erklärung der Volkskrankheit Herzinfarkt in Aussicht.

    Zweifellos werden sich die Experten noch eine Weile um die Tragweite der Chlamydien-Hypothese streiten – ein „Krieg“, wie der NEW SCIENTIST formulierte, in dem sich einstweilen „Gläubige, Ungläubige und Agnostiker“ unversöhnlich gegenüberstehen.

    „Das Thema wird größer als Aids“, meint gar der Karlsruher Pharmaforscher Friedemann Schwegler: Die neuen Einblicke in das Infarktgeschehen könnten zu der Erkenntnis führen, daß eine milliardenteure Herzmedizin jahrzehntelang an den Ursachen des Leidens vorbeitherapiert hat.

    Ohnehin ist die Bilanz im Kampf gegen den Herztod nicht gerade positiv. Zwar ging die Zahl der Infarkte in den letzten Jahrzehnten langsam, aber stetig zurück – eine Entwicklung, die von den Kardiologen bisher als Triumph der medikamentösen Prophylaxe gefeiert wurde (siehe Grafik Seite 246). Nun stellen die Verfechter der Chlamydien-Hypothese diesen Erfolg in Frage: Sie glauben im Verlauf der Herzinfarktzahlen das typische Muster einer bakteriellen Epidemie erkennen zu können. Den Rückgang werten sie als Begleiterscheinung des vermehrten Einsatzes von Breitband-Antibiotika seit Ende der sechziger Jahre. Unwissentlich hätten die Ärzte damit auch die sich seuchenhaft ausbreitenden Chlamydien zurückgedrängt.

    Sicher ist nur: Eine Behandlung, die dem Krankheitsprozeß der Arteriosklerose zuverlässig Einhalt gebietet, haben die Mediziner bisher nicht gefunden. Die Erkrankung der Schlagadern blieb ein Erzübel der Zivilisation – ihre Folgen, Herzinfarkt und Schlaganfall, seien „geradezu Teil des westlichen Lebensstils geworden“, spottet der Frankfurter Wolfgang Stille.

    Gefahr droht, wenn die arteriellen Blutgefäße ihre Elastizität einbüßen, sich verhärten oder verengen – zumeist ein langsamer Prozeß, der Jahrzehnte dauern kann und gefährliche Mangeldurchblutung zur Folge hat.

    Dem Herzinfarkt, dem gefürchtetsten unter allen Folgeleiden der arteriellen Verkalkung, erlagen 1995 in Deutschland 48 918 Männer und 38 821 Frauen – Raucher häufiger als Nichtraucher, Facharbeiter eher als Manager, allen voran Gastwirte und Kommunalpolitiker.

    Zwar pulst in den vier Höhlen des Herzmuskels ununterbrochen Blut, doch kann das nimmermüde Organ – es schlägt im Laufe eines 70jährigen Lebens rund drei- milliardenmal – seinen Sauerstoff- und Nährstoffbedarf nicht unmittelbar aus den Herzhöhlen befriedigen. Die Blutpumpe wird vielmehr durch ein dichtes, weit- verzweigtes Netz von Adern, den „Herzkranzgefäßen“ („Koronarien“), von außen her versorgt. Das ist, biologisch gesehen, ein riskantes Prinzip. Von allen Arterien des Menschen sind die Herzkranzgefäße die empfindlichsten, störanfällig durch zahlreiche körperliche und seelische Faktoren.

    In gesunden Tagen sind die Koronarien glattwandig, elastisch und nirgends verengt. Aber die Adern (siehe Grafik Seite 238) sind auf vielerlei Weise bedroht:

    * Die Einlagerung von Fett und Kalksubstanzen in die Innenwand der Arterien führt zu einer langsamen Verengung des Gefäßdurchmessers.

    * Ein Krampf der glatten Muskelfasern der verzweigten Arterien kann den Blutfluß abrupt und lebensgefährlich hemmen.

    * Ein Blutpfropf, entweder eingeschwemmt oder in dem Herzkranzgefäß selbst entstanden, kann die Ader verschließen. Die dahinterliegenden Muskelfasern des Herzens erhalten dann keinen Sauerstoff mehr und gehen zugrunde.

    Herzinfarkt und Krebs gelten Ärzten und Patienten zu Recht als die beiden größten Schrecken, als absolute „Herausforderung der Heilkunst“ (wie auch in diesem Jahr beim Wiesbadener Internistenkongreß versichert wurde). Der Infarkt ist die Meßlatte der Medizin – bisher liegt sie, in den meisten Fällen, noch immer zu hoch.

    „Kein toller Fortschritt – Infarkte so tödlich wie vor zehn Jahren“, teilte die MEDICAL TRIBUNE ihren ärztlichen Lesern im Februar dieses Jahres mit. Die angewandte Therapie – mal blitzschnell und energisch praktiziert, in Notarztwagen und Intensivstationen, mal schleppend und nachlässig angewandt, etwa wegen einer Fehldiagnose – hat auf den Verlauf des Infarkts weniger Einfluß als erhofft und von den Doktoren versprochen.

    Weltweit stehen die Mediziner, was Ursachen, Verlauf, Therapie und Prävention der Arteriosklerose und ihrer Folgekrankheiten angeht, vor Dutzenden ungelöster Fragen:

    * Warum verschont der Infarkt alte dicke Sünder wie Churchill, der bis zu seinem Tode (mit 90 Jahren) an seiner Überzeugung – „No sports, just whisky and cigars“ – festhielt?

    * Wie kommt es, daß Frauen seltener und im Durchschnitt zehn Jahre später am Herzinfarkt erkranken als Männer?

    * Warum differieren Häufigkeit und Schwere der Arteriosklerose in den einzelnen Ländern, Berufs- und ethnischen Gruppen?

    Bisher haben sich alle Forscher in ihren Theorien verheddert – mehr als 250 „Risikofaktoren“ des Menschheitsübels haben sie beschrieben. Aber was den menschlichen Schlagadern wirklich zu schaffen macht – falsches Fett oder zuviel Zucker, Kaffee, Wodka, der Seitensprung oder die Monogamie -, ist in Wahrheit nicht bekannt. So viele Gelehrte, so viele Antworten.

    Dabei hängt am jeweiligen Glauben über die Ursachen der Adernerkrankung nicht nur wissenschaftliche Reputation, sondern ein ganzer Rattenschwanz von finanziellen Folgen. Der Herzinfarkt kostet das deutsche Gemeinwesen pro Jahr rund hundert Milliarden Mark; rechnet man die anderen Arteriosklerose-Folgen, vor allem den Schlaganfall, hinzu, kommt man auf die dreifache Summe.

    Das Geld fließt in pharmakologische Blutdrucksenker und Gerinnungshemmer, in Diätkost, Reha-Kliniken, Selbsthilfegruppen, OP-Säle und zum nichtärztlichen Psychotherapeuten, der gemeinsam mit dem Kranken grübelt, was das Herz wohl bedrücken könne, warum ein Schlaganfall dem Betroffenen die Worte nimmt und ob das Raucherbein wirklich vom Rauchen kommt.

    Die Zahl der Ratschläge, wie man der Arteriosklerose ausweichen oder gar davonlaufen könne, ist Legion – und immer wird damit gutes Geld verdient. In Schottland empfiehlt die Wissenschaft Whisky pur als Therapie, in Frankreich den Rotwein, in Deutschland die Margarine. Der Beratene tut gut daran, als Experten hinter diesen Empfehlungen die Herren Jim Beam, Prof. Beaujolais und Dr. med. Becel zu vermuten.

    Hunderte von Millionen Werbemark hat der Lebensmittelkonzern Unilever investiert, um zuerst die Ärzte und dann das Volk davon zu überzeugen, daß Cholesterin der Übeltäter sei – und eifriger Margarineverzehr die beste Waffe gegen das Böse.

    In Wahrheit ist der körpereigene, farblose, wachsartige Stoff für den menschlichen Organismus unentbehrlich. Ohne Cholesterin funktionieren die Grenzflächen der Zellen nicht, kann der Körper weder Gallensäuren noch lebenswichtige Hormone produzieren. Zwar ist unumstritten, daß sehr hohe Cholesterinwerte die Entstehung arteriosklerotischer Plaques in den Adern beschleunigen. Doch nahm der Feldzug der Mediziner gegen das körpereigene Fett bald alle Züge einer Hysterie an. Die gerade noch tolerablen Grenzwerte für das Cholesterin im Blut wurden von einer Professorenrunde willkürlich so niedrig angesetzt, daß zeitweilig drei von vier Deutschen ein „pathologischer“ Cholesterinspiegel bescheinigt wurde.

    Einträchtig verschwiegen Ärzte, Lebensmittelindustrie und Pharmaunternehmen ihrer Kundschaft, die erfahrungsgemäß leichter das Portemonnaie zückt, wenn sie Angst hat, daß es in der Heilkunst keine Prognose des Einzelfalls gibt.

    Es mag sein, daß ein dicker, unsportlicher Raucher, ehrgeizig und aufstiegsorientiert, seinen Schlagadern ungestraft mehr zumuten kann als der „optimal Herzgesunde“, ein komischer Heiliger, den der amerikanische Infarktforscher Irving H. Page aus Cleveland/Ohio so beschrieben hat: Geschlecht männlich, weichliche Konstitution; von Beruf Gemeindediener oder Leichenbestatter; ohne Ehrgeiz, Ambitionen oder Kampfgeist; hat wenig Appetit und lebt vorwiegend von Obst, Gemüse, Haferflocken und Lebertran; verschmäht Tabak und den Besitz eines Radios, Fernsehgerätes oder Autos; steht seit seiner prophylaktischen Kastration ständig unter Nikotinsäurepräparaten und Langzeit-Antikoagulantien.

    Dieser brave, von Arbeitswut und Aufstiegsängsten nicht gestreßte Mann („Typ B“) tut das Allerbeste für seine Adern, besonders die Herzkranzgefäße – aber eben nur theoretisch.

    Hingegen, auch das ein Glaubenssatz der Ärzte, sei die leistungsorientierte, aggressive Manager-Persönlichkeit („Typ A“) zum Herzinfarkt disponiert. Inzwischen steht fest, daß Arbeiter vergleichsweise häufiger einem Infarkt erliegen als Manager. Als Hauptursache gelten nun nicht mehr vorrangig die Besonderheiten des Charakters oder der Sozialsituation, sondern das Zigarettenrauchen – Manager rauchen kaum noch, Arbeiter (und zunehmend Frauen) qualmen unverdrossen weiter.

    Bisher ist nur das Rauchen als Risikofaktor, der den Herzinfarkt begünstigt, zweifelsfrei gesichert. Alle anderen Faktoren – vom Haarausfall über weiches oder hartes Trinkwasser bis hin zu Streß und Bewegungsmangel – sind Glaubenssache.

    So erschien es nur wie eine besonders phantastische Variante der allfälligen Spekulationen, als der finnische Mikrobiologe Pekka Saikku im Jahr 1988 mit seiner Behauptung auf den Plan trat, es seien Bakterien, die den Herzinfarkt bewirkten.

    Saikkus Ehefrau hatte durch Zufall eine seltsame Entdeckung gemacht. Als die gelernte Biologin das Blut von Infarktkranken untersuchte, hatte sie darin große Mengen von Antikörpern gegen Chlamydien gefunden. Weshalb, so fragte sie sich, bäumte sich das Immunsystem der Patienten derart gegen dieses vermeintlich harmlose Bakterium auf?

    Nur kurz vor dem Saikku-Fund war dieser Erreger den Mikrobiologen überhaupt bekannt geworden. Die chronischen Infektionen, die Chlamydia pneumoniae normalerweise in der Lunge auslöst, sind so geringfügig, daß sie den Medizinern gar nicht aufgefallen waren.

    Beschrieben – und gefürchtet – waren bis dahin im wesentlichen zwei Arten aus der Gattung der Chlamydien: Durch „Schmierinfektion“ übertragen wird Chlamydia trachomatis, die das Auge befallen und zur Erblindung führen kann. Als Geschlechtskrankheit bewirkt sie bei Männern eitrige Harnröhreninfektionen, bei Frauen hinterläßt sie häufig vernarbte, undurchlässige Eileiter und wird dann zur Ursache von Unfruchtbarkeit. Die zweite Spezies, Chlamydia psittaci, welche die grippeähnliche „Papageienkrankheit“ auslöst, wird meist durch Vogelkot übertragen.

    Nun aber war der Verdacht des Ehepaars Saikku auf die Mikrobe Chlamydia pneumoniae gefallen, die, durch Tröpfcheninfektion übertragbar, viel weiter verbreitet ist als ihre Artverwandten – ein medizinischer Alptraum, falls sich das Szenario von der Arteriosklerose als einer Entzündungskrankheit bestätigen sollte.

    Die beiden Finnen machten sich daran, weitere Spuren zu sichern, die ihre These stützen könnten. Über Jahre hinweg untersuchte das Forscher-Ehepaar das Blut von Kranken mit allen möglichen Spiel arten der Arteriosklerose. Es wimmelte darin von Antikörpern zur Chlamydien-Abwehr.

    Dann machten Saikku und seine Frau eine noch erstaunlichere Entdeckung: In bestimmten finnischen Dörfern, in denen Herzinfarkte besonders häufig sind, hatten auffällig viele äußerlich gesunde Menschen Chlamydien-Antikörper im Blut – ganz so, als grassiere dort eine Infektion. Steckten sich die Bauern mit Herzinfarkt gegenseitig an?

    „Uns selbst erschien das alles unglaublich“, so berichtet Saikku. „Kurz vor dem Durchdrehen“ seien er und seine Frau angesichts der verwirrenden Fakten mehr als einmal gewesen. „Aber wir wußten, wir sind etwas Großem auf der Spur.“

    Zu Saikkus eigener Überraschung – „glücklicherweise haben die Redakteure nicht ganz verstanden, was wir schrieben“ – druckte das Fachblatt LANCET seinen Bericht und seine Hypothesen. Hunderte von Anfragen erreichten das finnische Forscher-Ehepaar. Aber es schrieben nur Urologen und Hautärzte, die glaubten, eine neue Variante von Geschlechtskrankheit sei aufgetan.

    Ein einziger Mediziner, der Epidemiologe Thomas Grayston im amerikanischen Seattle, verstand sogleich Saikkus Botschaft; er nahm sie ernst und machte sich auf die Suche nach Spuren der Erreger. Er fand das Erbgut von Chlamydia pneumoniae direkt in den Gefäßverschlüssen seiner Herzpatienten.

    Schon vor dieser Entdeckung waren sich die Mediziner weitgehend einig, daß das Unheil von einer Reizung der Arterienwände seinen Ausgang nimmt – ein Prozeß, der durch das Rauchen gefördert wird. Weiße Blutkörperchen eilen herbei, um die Irritation abzuwehren: Die Arterienwände entzünden sich.

    Doch einige der als Retter herangeströmten Immunzellen werden selber zur Gefahr. Sie haften an den Aderwänden fest, sterben ab und reizen dadurch das Gewebe von neuem. Immer mehr Blutkörperchen kommen und sterben: In der Ader wächst ein Bio-Schrotthaufen, der sich allmählich mit Cholesterin vollsaugt und eine fatale Ablagerung bildet. Tödlich wird dieser Belag, wenn er sich von den Aderwänden ablöst und als Pfropfen die Blutbahn verstopft.

    Dunkel jedoch blieb bisher, wie es zur anfänglichen Reizung der Arterienwände kommt und warum sich die über Jahre hinweg festsitzenden Plaques plötzlich selbständig machen.

    Beides können die Chlamydien-Funde erklären. Damit haben die Gefäßmediziner erstmals ein faßbares Gegenüber: ein krankheitsauslösendes „Agens“, nach dem die westliche Heilkunst bei jedem Leiden reflexhaft sucht.

    Chlamydien, soviel steht inzwischen fest, siedeln in genau jenen drei Zelltypen, die am Geschehen der Arteriosklerose beteiligt sind: in weißen Blutkörperchen, in Muskel- und in den Epithelzellen der Gefäßwände. Indem sie diese Zellen befallen, schädigen sie die Blutgefäße und vermögen dadurch die chronische Entzündung anzuschieben, an deren Ende der Infarkt steht. Eingebaut in die weißen Blutkörperchen, reisen immer neue Erreger aus der Lunge in die Versorgungsäderchen im Herzen. Dort, am Brennpunkt der Infektion, vollführen sie schleichend ihr Zerstörungswerk.

    Besonders wenn das Immunsystem geschwächt ist und die Chlamydien ungehindert aufblühen können, droht nach Meinung des Berliner Gefäßexperten Haller der Infarkt. Dann nämlich kann die Entzündung so stark aufflammen, daß der Arterienbelag instabil wird und sich von der Aderwand löst.

    Dies erklärt, warum Infarkte so oft als Begleiterscheinung etwa einer schweren Bronchitis oder als Folge von besonderem Streß auftreten: Wenn die Körperabwehr darniederliegt, wuchern nicht nur die schon vorhandenen Chlamydien in den Adern; auch neue Schübe der allgegenwärtigen Erreger strömen fast ungehindert in den Organismus. „Schon ein Speicheltröpfchen mit Chlamydien, eingefangen vom Husten eines anderen“, vermutet Haller, „kann dann die Katastrophe auslösen.“

    Damit hätte die Medizin nicht nur die erste lückenlose und experimentell belegbare Vorstellung davon, wie das tödliche Volksleiden entsteht. Sie hätte zugleich auch ein Rezept, wie der Seuche zu begegnen wäre. Denn gegen jede Art bakterieller Erreger steht den Ärzten ein Arsenal hochpotenter Wirkstoffe zur Verfügung – die Antibiotika.

    Wann die neue Lehre Eingang in die Heilkunst finden wird, ist eine andere Frage: Die Ärzteschaft, traditionell dem Althergebrachten verpflichtet, wird große Mühe haben, die Chlamydien-Theorie zu akzeptieren und nach ihr zu handeln.

    Die Bemerkungen am Rande des Wiesbadener Kongresses, bei dem die vorgetragenen Befunde zumeist schulterzuckend zur Kenntnis genommen wurden, lieferten einen Vorgeschmack auf kommende Kämpfe. „Keinesfalls“, erklärte beispielsweise der Hamburger Internist Eberhard Windler, dürfe man die Experimente überinterpretieren. „Wir sind weit davon entfernt, unsere Sicht von den Ursachen der Arterienverkalkung zu revidieren.“

    Daß die Mehrheit der prominenten Mediziner der Novität einstweilen skeptisch oder ablehnend gegenübersteht, läßt keinen Schluß auf Wahrheit oder Irrtum zu. „Wissenschaftliche Wahrheit“, so urteilte der weise Atomphysiker Max Planck, „pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden, sondern vielmehr, indem sie allmählich aussterben.“

    Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten hat der Ärztestand eine ähnliche Auseinandersetzung hinter sich gebracht: die Schlacht um Helicobacter pylori. Am Ende mußten die Doktoren widerwillig einsehen, daß dieses spiralförmige Bakterium tatsächlich die Ursache eines verbreiteten Volksleidens ist: des Magengeschwürs.

    Zwar liegen für diese simple Wahrheit schon seit 14 Jahren erdrückende Beweise vor; aber erst jetzt setzt sich die Erkenntnis allmählich durch, wie das Ulcus-Leiden mit guten Erfolgsaussichten zu therapieren ist: In fast 90 Prozent der Fälle lassen sich die Magengeschwüre mit Antibiotika auslöschen.

    Das Beispiel Magengeschwür/Helicobacter, so erklären die Anhänger der Chlamydien-Hypothese, zeige deutlich, daß selbst der hartnäckigste Ärztewiderstand den medizinischen Fortschritt nur verzögern, aber ihn nicht verhindern könne.

    Allerdings werden sich die Chlamydien-Theoretiker auch mit Gegenstimmen auseinandersetzen müssen, die ernster zu nehmen sind als blasierte Einwürfe des Medizin-Establishments. Die aufsehenerregende neue Deutung des Herztodes wirft Fragen auf, die noch nicht befriedigend geklärt sind: Wenn mehr als 50 Prozent der Bevölkerung mit Chlamydien durchseucht sind – warum erliegt dann nicht jeder zweite einem Herzinfarkt?

    Die Befürworter der Chlamydien-Hypothese antworten darauf mit einem englischen Begriff, der ohnehin gerade im Schwange ist: „triggern“. Soll heißen: Bestimmte Stoffe, Umstände, Abläufe oder Besonderheiten sind „Auslöser“ gesteigerter Chlamydien-Aktivität, sie wirken als heimliche Krankheitsstimulantien. So könnte durchaus das Rauchen die Aktivität der im Körper längst vorhandenen Mikroben fördern; ein Übermaß an Blutfett würde das Entstehen der Gefäßverengung vorantreiben, Streß oder eine akute Infektion könnten schließlich zum Ablösen der tödlichen Aderpfropfen führen.

    Warum aber bekommt ein Mensch, den zwei herzgesunde Menschen in die Welt gesetzt haben und der seine uralten Großeltern jeweils zum 90. Geburtstag besucht hat, voraussichtlich nie einen Infarkt? Bieten bestimmte Erbanlagen Schutz vor den Chlamydien? Oder – andersherum: Ist die Chlamydien-Anfälligkeit womöglich erblich?

    Nach wie vor, behaupten die Skeptiker, sei unklar, ob die Chlamydien den Prozeß der Arterienverkalkung allein hervorriefen oder ob sie ihn nur beschleunigen. Es fehle, so formuliert es der Lübecker Mediziner und Mikrobiologe Maaß, „der endgültige Beweis eines kausalen Beitrags der Infektion zur Arteriosklerose“.

    Pekka Saikku, der Vater der Infektionsthese, glaubt ihn schon in der Hand zu haben. In seinem neuesten Experiment sprühte er Kaninchen eine Chlamydien-Lösung in die Nase und simulierte so den üblichen Ansteckungsweg über die Schleimhäute. Nach wenigen Wochen zeigten die zuvor gesunden Tiere prompt deutliche Anzeichen einer Arteriosklerose. Saikku: „Das sind harte Indizien.“

    In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse einer Studie, die wenige Tage vor dem Wiesbadener Kongreß bekannt wurde. Darin erbrachten US-Mediziner durch eine großangelegte Vergleichsuntersuchung den Nachweis, daß Entzündungen beim Entstehen des Infarkts eine Schlüsselrolle spielen, wie es die Chlamydien-Theoretiker behaupten.

    Insgesamt 22 000 Berufskollegen hatten die US-Ärzte untersucht und ihnen über fünf Jahre hinweg Blut abgenommen. Die getesteten Mediziner waren gesund, zumeist Nichtraucher und hatten auch keine überhöhten Blutfettwerte – „ohne Befund“ also bei den klassischen Risikofaktoren.

    Dennoch erlitten 543 von ihnen später einen Infarkt, einen Schlaganfall oder eine Thrombose. Die tiefgekühlten Blutproben lieferten die Erklärung: Regelmäßig maßen die Forscher im Blut der Infarktopfer übermäßige Mengen an C-reaktivem Protein, einem Eiweiß, das der Körper bei Entzündungen bildet.

    Wie ein Vorbote deutet dieses Protein auf kommendes Unheil hin. Schon in Proben, die Jahre vor dem Infarkt genommen wurden, ließ es sich nachweisen. Der Wert der amerikanischen Megastudie ist einerseits grundsätzlicher Natur: Bewiesen ist damit, daß dem Herzinfarkt tatsächlich eine langwierige Entzündung vorausgeht.

    Andererseits könnten die Erkenntnisse aus Boston von unmittelbarem Nutzen sein: Sie nähren die Hoffnung, es ließe sich ein Frühwarnsystem für Arteriosklerose einrichten. Einfache Bluttests auf solche Entzündungsproteine, so schreiben die Autoren, könnten die heraufziehende Infarktgefahr anzeigen.

    Zudem liefert die Entzündungsreaktion auch eine neue Antwort auf die Frage, warum das Allround-Medikament Aspirin der Arteriosklerose vorbeugt. Das Hausmittel wird seit Jahren als Helfer gegen den Infarkt gepriesen; nach bisheriger Auffassung wirkt es, indem es die Blutgerinnung hemmt und damit vor der Bildung von Blutpfropfen in den Adern schützt.

    Tatsächlich bekamen auch unter den am Test teilnehmenden US-Ärzten die Aspirin-Schlucker seltener einen Herzinfarkt. Doch die Erklärung nach dem neuen Schema könnte lauten: Aspirin ist auch deshalb für Infarktgefährdete segensreich, weil es überall im Körper – und damit auch in den Herzkranzgefäßen – Entzündungen lindert.

    Als ultimativer Test aber, dem die Chlamydien-Hypothese standhalten muß, gilt die Frage, ob sich die Arterienverkalkung tatsächlich wirksam mit Antibiotika bekämpfen läßt. Können Pillen den Infarkt besiegen?

    Deutlich in der Minderheit sind bislang die Optimisten, die glauben, durch Schlucken von Antibiotika ließe sich eine Volkskrankheit heilen, an der die milliardenteure High-Tech-Medizin mit ihren Bypass-Operationen und Ballondilatationen allzu oft scheitert. Daß gleichwohl solche Hoffnungen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die Ergebnisse der in Wiesbaden vorgestellten Antibiotika-Versuche.

    Sandeep Gupta, Kardiologe in London, nahm sich Patienten vor, die gerade einen Herzinfarkt überstanden hatten. Bei 37 Prozent dieser Patienten kam es bei üblicher Behandlung, wie Gupta schreibt, zu „schweren Komplikationen“ – einem neuen Anfall oder zum Tod.

    Einer Gruppe dieser Patienten gab Gupta Antibiotika. Ergebnis: Nach kurzer Zeit war der Großteil der Chlamydien-Antikörper aus dem Blut verschwunden, die Medikamente hatten offenbar den Erreger abgetötet. Das Risiko eines erneuten Infarkts sank bei den Antibiotika-Patienten auf ein Viertel.

    Damit seien die Chlamydien als Urheber der tödlichen Arterienverstopfung zweifelsfrei identifiziert, behauptet Infektionsmediziner Wolfgang Stille: „Die Daten reichen aus“ – zumal eine argentinische Studie zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sei. Jetzt, glaubt Stille, sei es an der Zeit, über die Umsetzung des neuen Wissens nachzudenken und die Jagd auf den Erreger zu beginnen: „Wir werden den Chlamydien mit Antibiotika den Garaus machen.“

    Ein ganzes Arsenal von Abwehrwaffen sieht Stille offenstehen: Standardmäßig sollten Patienten künftig nach dem ersten Infarkt keimtötende Medikamente einnehmen, um einen zweiten zu vermeiden. Personen, bei denen in Bluttests Chlamydien nachgewiesen würden, könnten vorsorglich Antibiotika wie Doxycyclin oder Azithromycin schlucken und so die Arteriosklerose stoppen. Auch eine Impfung gegen Chlamydien werde kommen – der Herzinfarkt würde dann so bedeutungslos wie die Röteln.

    Auf der Wiesbadener Tagung führte Stille auf Schaubildern vor, wie er sich den Rhythmus der Antibiotika-Einnahme vorstellt. Damit allerdings eilt der Frankfurter Wissenschaftler seiner Zeit weit voraus.

    Darüber, mit welchen Strategien sich der Erreger wirkungsvoll niederringen läßt, geben die bisherigen Studien keine Auskunft. Aber dafür waren diese Untersuchungen auch nicht gemacht. Eigentlich hatte der Londoner Gupta nur zeigen wollen, wie sich Antikörperzahlen im Blut nach Antibiotika-Gabe verhalten. Daß er dabei mehreren Patienten das Leben rettete, war gewissermaßen ein erfreulicher Nebeneffekt.

    Noch ist die Untersuchung viel zu klein, um eine Therapie darauf zu gründen. Es könnte sich immer noch um Zufallstreffer handeln. Und nichts, meint der Berliner Hermann Haller, „wäre schädlicher, als wenn die Ärzteschaft nun begänne, blindlings Antibiotika zu verteilen“. Dadurch erhielte der Feind Gelegenheit, antibiotikaresistente Stämme herauszubilden und sich fortan allen Medikamenten zu widersetzen.

    Eine Strategie gegen die tödlichen Mikroben, darin sind sich die Experten einig, können nur jahrelange Großstudien mit mehreren tausend Patienten aufzeigen, wie sie in den USA und in England gerade starten.

    Diese Untersuchungen sollen vor allem klären, welche Patienten von welcher Antibiotikabehandlung profitieren könnten. Mikrobiologe Maaß, der eine Studie mit ein paar hundert Patienten vorbereitet, verbreitet gedämpften Optimismus: „Selbst wenn unsere Ergebnisse nur einen kleinen Teil der Kranken beträfen, wäre das sensationell.“

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